Die Kirchen berichten viel, wie wenig man bei den zuständigen Personen und den zuständigen Gremien gewusst habe, wie sehr man die vielen Fälle von Missbrauch bedauere, dass aber keine Anzeige gemacht worden sei, viele Taten schon verjährt und strafrechtlich nun nicht mehr relevant seien und um die Opfer nicht weiter zu traumatisieren, sei der Missbrauchsfall mit Versöhnung abgeschlossen worden.
Die Kirchen berichten aber wenig, wie schwer und ohne Schuld die Opfer aus der Bahn ihres Lebens geworfen wurden. Die Spiegel-Redakteurin Annette Langer griff das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche auf und portraitierte Bernd, eines der Opfer, tauchte in seine Vergangenheit ein:
Ich schaute mir alte Fotos an, sichtete Unterlagen, las die Briefe der katholischen Kirche und Berichte der Lokalmedien. Vieles von dem, was ich sah, ähnelte dem, was mir andere Missbrauchsopfer berichtet hatten. Bernds Fall erschütterte mich, weil er zeigte, wie verheerend sich sexuelle Gewalt gegen Kinder auf deren Leben auswirkt.
Bis die Geschichte seines Lebens an die Öffentlichkeit kam, war er schon tot.
spiegel.de: Bernds Vermächtnis
Ohne den Missbrauch, da war sich Bernd sicher, wäre sein Leben völlig anders verlaufen.
Es braucht wenig, um viel zu zerstören. Bernd war eines von nicht wenigen Missbrauchsopfern, die ein Leben lang unter den Folgen der Taten litten. Seine Geschichte beginnt in Wilhelmshaven, wo er als Messdiener in der katholischen Christus-König-Kirche tätig war. Als Kind vertraute er dem Priester, der ihn statt zu beschützen, schwer traumatisierte.
Sonntags durfte er vor dem Gottesdienst zu Pfarrer N. in die Wohnung, zum Frühstücken. Eine Auszeichnung. Allerdings wurde da nicht gefrühstückt.
Bernd kämpfte Jahrzehnte später verzweifelt darum, die Dämonen los zu werden und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Er kämpfte um Anerkennung für das erlittene Leid zu erhalten, um Anerkennung als Opfer.
Die Erschütterung blieb, und sie machte Beziehungen für Bernd unmöglich. Er blieb allein, arrangierte sich mit der Ohnmacht, den vagen Erinnerungen, die ihn überfluteten, wenn er es am wenigsten erwartete.
Sein Leben war gezeichnet von Einsamkeit, Depressionen und Schlafstörungen, begleitet von schweren physischen Erkrankungen wie Diabetes und Krebs. Trotz dieser massiven gesundheitlichen und emotionalen Belastungen gab Bernd nicht auf. Später suchte er Hilfe beim kirchlichen Missbrauchsbeauftragten. Doch die Antworten, die er erhielt, blieben enttäuschend. Der Priester, der ihn missbraucht hatte, verweigerte die Zusammenarbeit und wurde von der Kirche weitgehend geschützt.
Bernds Leben war ein unaufhörlicher Kampf um Gerechtigkeit. Er verlangte eine Entschuldigung und eine angemessene Entschädigung, doch was er erhielt, war weit entfernt von echter Wiedergutmachung. Für Bernd war klar, dass sein Leben ohne den Missbrauch völlig anders verlaufen wäre – er hätte eine Familie gründen, Kinder haben und ein glückliches Leben führen können. Doch diese Zukunft war ihm für immer genommen.
Unermüdlich setzte Bernd sich für die Aufklärung seiner Geschichte ein. Dennoch blieb bis zu seinem Tod vieles der Geschichte seines Lebens ungesagt und ungelöst. Sein Schicksal und sein Leiden steht sinnbildlich für das Leid zahlreicher Missbrauchsopfer, die nicht nur mit den Folgen der Taten kämpfen, sondern auch mit einem System, das viel zu lange weggeschaut hat.
Bernds Eltern nahmen ihn irgendwann aus der katholischen Kirche. Doch warum? Hatte jemand sie über die Vergehen des Priesters informiert? Diese Frage blieb unbeantwortet. Kurz vor ihrem Tod versuchte Bernd, sie zum Reden zu bewegen – vergebens.
In einem letzten, verzweifelten Versuch, Frieden zu finden, rief Bernd an Heiligabend den inzwischen gealterten Priester an. Er schrie ihn an, liess all seinen aufgestauten Schmerz heraus. Für einen kurzen Moment verspürte er Erleichterung, fast so etwas wie Befreiung. Doch diese Genugtuung war nur von kurzer Dauer. Wenig später erlitt Bernd einen Herzinfarkt und starb.